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Gnade sei mit euch und Friede, liebe Gemeinde in Urbach und liebe Gäste!
Viel Jubel kommt bei Ihnen in Urbach an diesem schönen Maientag,
dem „Hirtensonntag“ unserer Landeskirche zusammen. Das gab’s noch nie,
dass ich an einem Tag und am gleichen Ort gleich drei Jubiläen auf
einmal mitfeiern konnte. „Ein Aufwasch“ nennt man das in der Küchensprache,
und in moderner Kirchensprache nennt man es wohl „Synergieeffekt“ und „Wirtschaftliches
Handeln“.
Ich habe also erstens heute nachträglich unserem schwäbischen
Reformator Johannes Brenz zu seinem 500. Geburtstag zu gratulieren und
dazu, dass er in Urbach im Gemeindezentrum zu späten Ehren gekommen
ist, und ich hoffe, dass der Vortrag von Dr. Weissmann heute nachmittag
von vielen Leuten gern gehört wird.
Ich habe zweitens denen zu gratulieren, die das Johannes-Brenz-Gemeindehaus
geplant, gebaut und finanziert und vor genau 10 Jahren eingeweiht haben,
um es danach mit Leben aller Art zu füllen.
Und drittens habe ich dem Posaunenchor zu gratulieren, der mit seinen
115 Jahren immer noch bläst und bläst und bläst und dem
dabei hoffentlich noch lange nicht die Luft ausgeht!
Ich gratuliere Ihnen allen und grüße Sie auch von unserem Landesbischof Eberhardt Renz und von der Kirchenleitung insgesamt.
Ich bringe zum Fest keinen Orden mit und keine Brenzmedaille, auch sonst
keine Urkunde und keinen Scheck, sondern nichts als ein großes Zeitungsblatt.
Weil Sie von weitem das nicht alle so gut sehen können, sag ich
Ihnen, was auf dem Blatt zu finden ist: lauter Schafe! Jede Menge Schafe!
„Kirchenschafe“ denken manche vielleicht sofort und setzen sich aufrecht
hin, um schon einmal ihren Protest anzumelden.
Ich sage Ihnen weiter, dass mitten drin in dieser überdimensionalen
Schafherde ein einsamer Mensch steht. Ein kluger Kopf, der die Zeitung
liest. Welche Zeitung es ist, das lasse ich dahingestellt.
Ich möchte zunächst ein Lob auf die Kunst des Lesens und die
Kunst des Schreibens anstimmen und uns dazu beglückwünschen,
dass wir über Jahrhunderte und Generationen hinweg im Lesen und im
Hören miteinander verbunden sind. Dass wir zum Beispiel mit den Psalmsängern
Israels zusammen beten können: „Gott hat uns gemacht und nicht wir
selbst/ zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide“ oder mit einem andern
Psalmsänger sprechen „Der Herr ist mein Hirte“. Und dass wir über
die Zeiten hinweg Jesus lesen und hören können, wenn er sagt:
„Ich bin der gute Hirte!“
Lesen und schreiben, reden und hören können, das ist ein
Schatz, ein Privileg.
Vor 500 Jahren ist Johannes Brenz geboren - dicke Bücher mit Predigten,
Briefen und Kirchenordnungen sind uns von ihm geblieben, immer wieder holt
sie jemand hervor und macht darin neue Entdeckungen.
Seit 10 Jahren steht Ihr Gemeindehaus – lebendige Tradition des Glaubens,
Bibelstunden, Gespräche, Vorträge, Feste, Jungscharstunden, Seniorentreffen
– das gelesene, gehörte Wort wird weitergegeben vom einen zur andern.
Seit 115 Jahren besteht der Posaunenchor – Musik ohne Worte einerseits
und doch randvoll mit Wort gefüllt. In den vielstimmig
geblasenen Chorälen erklingt immer auch eine Botschaft, wenn die Posaunen
am Grab oder auf dem Turm oder beim Geburtstagsständchen vor dem Haus
auf der Straße spielen. Erinnerung wird wach an vergangene Zeiten,
als man im Kindergottesdienst biblische Geschichten hörte oder der
Großvater sie am Sonntag nachmittag vorlas. Alte Zeiten, aber das
Wort hat sich nicht verbraucht und nicht erschöpft, es ist quicklebendig
und unerschöpflich.
Ob uns immer so bewußt ist, wie viele Hirten uns im Leben auf die gute Weide des Wortes geführt haben! Ich denke dabei nicht nur an berühmte Namen, also nicht gleich an den Johannes Brenz, sondern ich denke an den Jungscharleiter, die Kinderkirchhelferin, den Diakon, die Hausmeisterin, den Gemeinschaftsbruder, die Kirchengemeinderätin – lauter Hirtenmenschen, so viele, dass manchmal fast die Schafe auszugehen scheinen.
Aber noch einmal zurück zu dem Bild aus der Zeitung: da steht also einer mitten zwischen aberhundert Schafen und liest. Und jetzt mach ich einfach einen etwas gewagten Sprung in den heutigen Predigttext hinein und sage: da liest einer die Nachrichten aus dem 1. Jahrhundert nach Christus, liest in dem alten Gemeindebrief, geschrieben von einem Apostel, der sich Petrus nennt. Ich bin mit diesem Zeit-Sprung bei unserem heutigen Predigttext aus 1. Petrus 5 gelandet. Da steht:
Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde.
O je, denkt der Nachrichten-Leser und schaut sich um: Das sind aber
viele, die zur Herde Gottes gehören! Ich wußte gar nicht, dass
die Herde so groß ist! Aus wie viel verschiedenen Ställen die
wohl zusammenkommen! Und wer soll die alle hüten und weiden, wie soll
ich die alle satt kriegen! Und wer sorgt dann für mich, eingezwängt
und gefangen wie ich bin in der viel zu großen Aufgabe!
Freiwillig und von Herzensgrund - ja, sagt jemand, ich mach mein Amt
freiwillig und schon viele Jahre –
aber es drückt mich oft gewaltig, und niemand nimmt mir die Ehre
und das Amt auch wieder ab –
Mein Lohn ist, dass ich darf, heißt es und ich stelle mir vor,
jemand sagt: ich will ja auch gar keinen Lohn und erst recht keine Herrschaft
über andere, aber ich möchte nicht so allein in der großen
Herde stecken und immer auf dem Posten sein müssen, immer ein Vorbild
für die andern, immer irgendwie auf dem Präsentierteller.
Ein Hirtenklagelied, das wir kennen. Viele von uns könnten es anstimmen,
ehrenamtliche und hauptamtliche und könnten noch viele eigene Verse
hinzufügen.
Der Briefschreiber in Kleinasien wendet sich an die verantwortlichen
Leute in der Gemeinde, wenn er schreibt:
Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll. Weidet die Herde Gottes...So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unvergängliche Krone der Herrlichkeit empfangen.
Also doch ein Orden, ein himmlischer Lohn? Lassen wir’s dahingestellt
sein, die künftige Herrlichkeit ist Gottes Sache allein.
Viel wichtiger ist, dass wir Hirtenmenschen hier auf Erden darüber
nachdenken, wie wir mit unserer jeweiligen Herde, mit den anderen Hirtenleuten
und mit uns selber umgehen. Denn Hirten sind wir alle. Von Gott dazu beauftragt,
einer des andern Hüter und Hüterin zu sein, einer des andern
Bruder und Schwester. Betraut auch mit der schwierigen Aufgabe, die andern
manchmal auch vor uns selber zu hüten, vor einem Übermaß
an Führen und Leiten, Betreuen und Sorgen, Besserwissen und Vorbild
sein. Vor einem Übermaß an Macht ausüben und Herrschen,
womöglich sogar über den Glauben eines andern. Und betraut auch
mit der nicht weniger wichtigen Aufgabe, unser eigener Hüter, unsere
eigene Hüterin zu sein und auch für uns selber zu sorgen, damit
der Herzensgrund nicht darbt und verkümmert und damit Seele und Leib
nicht unversorgt und ungeweidet bleiben.
Misericordias domini heißt dieser Sonntag, ein Tag der Barmherzigkeit
Gottes über Herde und Hirt.
Auf den apokalyptischen Trost einer himmlischen Krone kann man vielleicht
verzichten, aber auf die Barmherzigkeit Gottes nicht. Von der leben wir
in allen unsern Ämtern und Ehrenämtern und von nichts sonst.
Außer manchmal auch von der Barmherzigkeit, die wir Menschen
einander angedeihen lassen.
Als Prälatin habe ich oft Wiederbesetzungssitzungen zu leiten. Da denkt sich dann ein Kirchengemeinderat aus, was für ein Pfarrer für die Gemeinde gut wäre – und es kommt eine Traumfigur dabei heraus, von der die einen sagen, man müsse sie in Wasseralfingen gießen lassen und die anderen erinnern an den Spruch von der eierlegenden Wollmilchsau. Einmal hat in einer solchen Sitzung ein Mitglied des Kirchengemeinderats gefragt: „Werden wir auch genug Erbarmen haben mit dem neuen Pfarrer oder der neuen Pfarrerin?“ Daraufhin war es für ein paar Augenblicke ganz still im Raum und alle wußten: darauf kommt es letztlich an, dass wir aus Gottes Erbarmen heraus Erbarmen miteinander und auch Erbarmen mit uns selber haben.
Liebe Hirtenmenschen in Urbach, junge und alte, frischgebackene und langbewährte – ich will jetzt nicht näher auf Ihre vielen Hirtenaufgaben eingehen – von der Mutter-Kind-Gruppe bis zum Kirchenchor, von der Gemeindedienstfrau bis zum Bürgermeister, vom Pfarrer und der Pfarrfrau bis zur Jungscharleiterin.
Ich will stattdessen den Bogen noch einmal ein paar hundert Jahre zurückschlagen
zum Reformator Johannes Brenz, der ein Hirte in unserer Kirche war.
Ein paar kleine Lesefrüchte nur – denn den eigentlichen Vortrag
hören Sie ja heute nachmittag.
Ich will versuchen , einige Aspekte des Hirtenamts mit Worten von Johannes
Brenz zu verdeutlichen. Es sind sechs Aspekte insgesamt – dann wissen Sie
auch gleich, wann ich zum Schluß komme.
Da ist erstens der seelsorgerliche Aspekt.
Als Johannes Brenz im Jahr 1570 in der Stuttgarter Stiftskirche beigesetzt
wurde, sagte der Hofprediger Bidenbach über ihn:
„Er ist ganz sanftmütig, geduldig und schier nur ganz zu leis
gewesen, als der auch gegen bösen Leuten schier nicht gern gezürnet
hat und niemanden gern von seinem Angesicht traurig hinweg hat gehen lassen.“
Solche Hirten möchten wir gern haben und auch selber sein, von
denen niemand traurig oder noch mehr bedrückt weggeht. Auch dann nicht,
wenn man einmal so sanftmütig und geduldig vielleicht gar nicht sein
kann, sondern auch einmal zupacken und konfrontieren muss.
Da ist zweitens der politische oder prophetische Aspekt des Hirtenamts, das öffentliche Eintreten für Einzelne oder ganze Gruppen. Advocacy – heißt das heute in der Sprache der Gerechtigkeit für die Armen und die Unterdrückten.
Im Jahr 1525 wurde in Schwäbisch Hall der Bauernaufstand mit Gewalt niedergeschlagen. Johannes Brenz erhob sofort seine Stimme und redete dem Haller Rat ins Gewissen. Er sagte: „Nicht die Untertanen allein haben gesündigt, sondern die Obrigkeit liegt auch zum Teil krank in diesem Spital...Beweiset darum den Untertanen Gnade, dass sie merken, dass sie an ihrer Obrigkeit nicht Wölfe, sondern Hirten und Hüter haben.“
Wer so mutig mit den Mächtigen redet, hat keinen Gewinn davon, verdient sich auch keine Lorbeeren. Aber solche Fürsprache ist nötig in der Welt, damit nicht einer dem andern zum Wolf wird. Fürsprache, advocacy ist ein nötiger Hirtendienst an den Armen und an den Reichen, an den Mächtigen und den Machtlosen.
Da ist drittens der theologische und pädagogische Aspekt des Hirtenamts.
Martin Luther hat einmal in einer seiner Tischreden folgendes über
Johannes Brenz gesagt:
„Es gibt keinen unter allen Theologen unserer Zeit, der die heilige
Schrift so einfältig und deutlich erklärt und abhandelt wie Brenz,
so sehr, dass ich sehr häufig in Bewunderung seines Geistes an meinen
Kräften verzweifle.“
Das ist ein hohes Lob von dem berühmten Lehrer aus Wittenberg
an den noch jungen Prediger von St. Michael in Schwäbisch Hall. Er
lobt ihn in der wichtigsten Aufgabe, die ein Pfarrer zu erfüllen hat:
immer und immer wieder in der Schrift zu lesen und immer neu zu versuchen,
sie so auslegen, dass man die Worte mit Herz und Verstand begreifen kann.
Da ist viertens ein praktischer und diakonischer Aspekt.
In seiner ersten uns erhaltenen Predigt aus dem Jahr 1523 setzt sich
Johannes Brenz mit der Heiligenverehrung auseinander und sagt in diesem
Zusammenhang: „Mit Geld, Hilfe oder anderem mußt du die jetzt
lebenden Heiligen verehren, welches arme dürftige unterdrückte
Leute sind.“
Johannes Brenz hat in seiner Kirchenordnung das Armenwesen, die Diakonie,
nicht vergessen, auch nicht das Schulwesen, und beim Schulwesen nicht die
Mädchen, die bislang keinen geregelten Unterricht hatten.
„Die Gschrift gehört nit den Männern allein“
sagte er und sorgte dafür, dass eine geeignete Frau für den Unterricht
gefunden wurde.
Da ist fünftens auch der Aspekt des Leidens, die martyria, das Zeugnis mit dem eigenen Leben. Johannes Brenz, der Hirte der Gemeinde, mußte aus Hall fliehen, er mußte sich verstecken und außer Landes gehen. Als seine Frau starb, war er weit fort von ihr. Auch Herzog Ulrich konnte ihn zu mancher Zeit nicht schützen und einmal hat er ihn unter Tränen mit den Worten entlassen: “Wenn ihr Gott lieb seid, so wird er euer Leben behüten.“
Da ist schließlich sechstens der Aspekt der Gemeinschaft und des
miteinander Lernens. Es muss nicht so sein, dass einer als der allein Gescheite
mit seinem Buch in der Mitte von lauter sogenannten dummen Schafen steht.
Die Hirten sind Teil einer großen Lerngemeinschaft und sind keine
Besserwisser und Alleinwisser von Amts wegen. In der Auslegung zu seinem
großen Katechismus schrieb Johannes Brenz:
„In der Mitte der Kinder sein, heißt unter Engeln weilen.
Die Kinder zum Anhören und Lernen des Katechismus anhalten, heißt
ihnen Führer sein zum wahren und ewigen Leben.“ Aber er wußte
auch: „ dass es nicht fruchtbarlich sei, dass man sie mit viel Lernen überschütte,
gleich wie es geschieht, so man ein Trichterlein in einer Flasche steckend
überschütte, so rinnt es doch neben ab.“
Genug damit der Lesefrüchte zum Hirtenamt und zum Weiden der Herde
Gottes.
Ich will schließen mit den Sätzen, die der sechzigjährige
Johannes Brenz in einem Brief an einen seiner Kritiker schrieb:
„In diesem Jahr, in dem ich das schreibe, bin ich im öffentlichen
Amt der Kirche 37 Jahre tätig. Welche Mühsal habe ich nicht ertragen,
welches Elend nicht gesehen, welchen Gefahren bin ich nicht begegnet, welche
Schrecken und Sorgen haben mich nicht erschöpft. Das alles zielte
und zielt bis heute darauf, dass ich je mehr und mehr Christus erkenne
und ihn als den Gekreuzigten, und (dass) der Kirche geholfen werde ihn
zu erkennen durch Gottes Geschenk und meinen wie auch immer gearteten Dienst.
Was soll es also? Soll ich, da ich meine Schwäche erkenne, darum meinem
Beruf nicht nachgehen und keine Rechenschaft von meinem Glauben geben?
Ich glaube, darum rede ich...“
Gott segne Sie, liebe Gemeinde in Urbach, in ihrem vielfältigen
Hirtenamt und in Ihrem Glauben und Lieben.
Amen.
Dorothea Margenfeld
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