Predigt von Pfarrer Hans-Georg
Karle
Gehalten am 28.01.2001 (ökumenischer
Bibelsonntag) in Urbach in der katholischen Kirche St.Marien
Biblischer Text: Matth.5,17-20
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Predigt am Gemeinsamen Bibelsonntag, 28. Januar 2001
In der Kathol. Kirche St. Marien in Urbach
Lesung:
Mt 5,17-20
Jesu Stellung zum Gesetz
Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder
die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen,
sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und
Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen
vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten
Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen
im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen
im Himmelreich. Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser
ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht
in das Himmelreich kommen.
Liebe Gemeinde!
I
"Wie hältst Du's mit dem Grundgesetz?" Das war die Gretchenfrage,
der sich viele Studenten meiner Generation gefallen lassen mussten, als
es um die Einstellung als Lehrer oder Beamter ging. Der sog. "Radikalen-Erlass"
erlaubte es, bei uns "68ern" genauer nachzufragen und nachzuforschen.
Ja, auch ich war so ein "68er". Ich habe in den Jahren 1967-71 studiert.
Unsere Generation war in Bewegung geraten. Wir nahmen nicht mehr alles
so fraglos hin, was vorangehende Generationen als selbstverständlich
und unverrückbar ansahen. Wir hegten tiefes Misstrauen gegen die damals
durchgesetzten Notstandsgesetze und demonstrierten dagegen, dass dem Staat
zu viele Vollmachten in die Hand gegeben wurden. Als der Protest nichts
nutzte, stellten einige unserer Generation den Staat grundsätzlich
in Frage – sie wurden radikal, manche auch militant und einige wenige extrem.
Diese lehnten jegliches Gesetz ab und wurden in ihrem Fanatismus zu Terroristen.
Kein Wunder also, dass der Staat, als es um die Einstellung neuer Lehrer,
Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst ging, genauer nachfragte
und von den Anwärtern wissen wollte: "Wie hältst Du's mit dem
Grundgesetz?"
Ähnliche Zweifel – freilich nicht auf politischem, sondern religiösem
Gebiet – mögen der Hintergrund für die Worte Jesu in unserem
heutigen Predigttext sein. In meiner Bibelausgabe stehen sie unter der
Überschrift: "Jesu Stellung zum Gesetz".
Da gab es bei diesem Jesus von Nazareth doch manchen Anlass zu Zweifeln
an seiner Gesetzestreue. Das Gesetz – das war damals die Thora: Die Rechtsvorschriften,
wie sie in den 5 Büchern Mose enthalten waren. Zu frei erschien den
frommen Hütern der Thora der Umgang Jesu mit diesen für die religiöse
Gemeinschaft der Juden so grundlegenden Rechtsvorschriften. Musste er den
ausgerechnet immer wieder am Sabbat heilen? Ging das denn nicht auch an
einem der 6 anderen Wochentagen?
Und musste er sich denn so großzügig über jegliche
Reinheitsvorschriften hinwegsetzen, die genau bestimmten, was ein frommer
Jude essen darf und was nicht, wenn er sagte: "Was zum Mund hineingeht,
das mache den Menschen nicht unrein; sondern was aus dem Mund herauskommt,
das macht den Menschen unrein" (Mt. 15,11)?
Hielt sich dieser Jesus nicht verdächtig oft bei zwielichtigen
Gestalten auf – ja war sogar Tischgenosse bei Zöllnern, Sündern
und gefallenen Mädchen?
Ich kann sie schon ein wenig verstehen – zumindest mich hineinfühlen
– in jene Pharisäer, denen das Gesetz des Mose wichtig, hoch und heilig
war. Ich kann es durchaus nachempfinden, wie ihnen soz. die Haare zu Berge
stehen mussten, wenn sie sahen, mit welcher Freiheit Jesus mit den Geboten
und Verboten der Thora umging. Wenn er sich z.B. großzügig über
die Sabbatvorschriften hinwegsetzte, löste er damit nicht das ganze
Gesetz auf?
II
Jesu Antwort auf diese Zweifel und Bedenken: "Ihr sollt nicht meinen, dass
ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin
nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen"
Wie sind diese Worte zu verstehen? Sind es nachträgliche Versuche
der Rechtfertigung, etwa in dem Sinne: "Ich hab das alles nicht so gemeint.
Ich stehe auf dem Boden des Gesetzes und werde mich künftig genau
danach halten!"?
Das wäre gründlich missverstanden. Jesus will damit etwas
ganz anderes sagen, wenn er hier betont: "Wenn eure Gerechtigkeit nicht
besser ist als die der Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich
kommen."
Von Gerechtigkeit redet hier Jesus. Das Gesetz ist nicht um des Gesetzes
willen da, sondern das Gesetz ist dazu da, Gerechtigkeit zu schaffen. Und
um diese Gerechtigkeit geht es ihm – um eine andere, neue Gerechtigkeit,
die viel mehr und viel radikaler ist als die Gesetzestreue der Pharisäer.
Die Gesetzlichkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten sagt: Am
Sabbat darf man dies und dies und das alles nicht tun. Man darf höchstens
1000 Schritte laufen und keinerlei Arbeit verrichten, bei der irgendetwas
hergestellt wird.
Jesus aber sagt: Der Sabbat ist von Gott eingesetzt, um den Menschen
Gerechtigkeit und Heil zu schaffen. Gott schenkt den Menschen diesen Tag,
damit sie ruhen können von ihrer Arbeit – und das gilt für alle,
auch für die Knechte und Mägde, selbst für die Sklaven und
das Vieh. Da ist es geradezu Gesetzeserfüllung, sagt Jesus, wenn ich
am Sabbat den Kranken Gesundheit schenke. Dafür ist der Sabbat da:
für den Menschen! Und nicht der Mensch für den Sabbat.
Die Gesetzlichkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten sagt: Dies
und das und jenes dürft ihr nicht essen, das ist unrein und so und
so viele Male müsst ihr euch waschen, damit ihr nicht befleckt vor
Gott da steht.
Die neue Gerechtigkeit, die Jesus fordert, sagt: Schaut nicht so sehr
auf das Äußere. Achtet darauf, was aus eurem Inneren herauskommt:
Böse Gedanken, böse Worte, böse Blicke, Hass, Neid, Rachsucht
– das alles ist viel viel schlimmer als dreckige Finger und nicht vorschriftsmäßig
gereinigte Schüsseln. Darauf habt acht! Richtet eure ganze Anstrengung
darauf, euch von euerer inneren Unreinheit zu reinigen.
Wie radikal Jesus das Gesetz vertieft, anstatt – wie seine Gegner behaupten
– es aufzulösen, zeigen die unserem Bibeltext folgenden Abschnitte
in der Bergpredigt. Da legt Jesus die Gebote viel grundsätzlicher
aus als es reine Buchstabentreue zum Gesetz vermag:
"Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: ‚Du sollst nicht
töten!; wer aber jemand tötet, der soll dem Gericht verfallen
sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt,
soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: ‚Du Dummkopf‘,
soll dem Spruch des Hohen Rats verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: ‚Du
(gottloser) Narr!‘, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein."
Töten – das beginnt bei Jesus nicht bei der Tat des Handanlegens
am Leben des Anderen. Töten – das beginnt, wo ich mit Gedanken und
mit Worten meinen Nächsten vernichten will.
Noch radikaler begegnet uns Jesus beim 6. Gebot: "Ihr habt gehört,
dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage
euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen
schon Ehebruch mit ihr begangen."
Wahrlich: Hier wird kein Jota und kein Tüpfelchen vom Gesetz genommen,
geschweige denn etwas verwässert oder aufgelöst. Jesus stellt
nicht das Gesetz in Frage, sondern jene Buchstabentreue, die bloß
die gesetzeswidrige Tat verurteilt, die Ursachen aber, die sie herbeiführen,
nicht sieht.
Aber nicht bloß die Verbote, die das Gesetz aufstellt, weitet
Jesus radikal aus – auch die Gebote. "Du sollst deinen Nächsten lieben
wie dich selbst" – das gilt bei ihm nicht bloß für die Nahestehenden
und Freunde. Der Nächste ist für ihn der Mensch, den Gott mir
gerade soz. vor die Füße legt – auch wenn er ein Feind
ist. Auch – ja gerade ihn sollen wir lieben wie uns selbst: "liebt eure
Feinde und betet für die, die euch verfolgen. Segnet, die euch fluchen;
tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch beleidigen
und verfolgen" – so steht es noch in dem gleichen Kapitel der Bergpredigt.
Ist Jesus noch enger als die Pharisäer bei den Fragen der Gesetzeserfüllung?
– Nun, Jesus will keine engere Gesetzlichkeit, er will eine bessere Gerechtigkeit.
Er will, dass der Geist der Gesetze und Gebote voll beachtet wird. Er wirft
den Schriftgelehrten und Pharisäern vor: "Weh euch Schriftgelehrten
und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill
und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer acht: Gerechtigkeit,
Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen."
(Mt. 23,23) – Also keine Aufhebung der Vorschriften! Jesus wehrt sich gegen
das bloße Sich-Klammern an die Vorschriften, gegen die peinliche
Erfüllung von Gesetzesvorschriften ohne den Blick für den Sinn
aller Gesetze: Recht, Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen unter den Menschen.
III
Und damit sind nicht nur die Pharisäer gemeint. Gemeint sind wir alle.
Freilich töten wir nicht – aber mit welchem Hass begegnen wir
gelegentlich anderen Menschen! Wie oft haben wir nicht schon jemand in
Gedanken vernichtet oder mit unseren Worten erledigt.
Natürlich stehlen wir nicht – aber wie genüsslich hauen wir
gelegentlich andere über's Ohr.
Selbstverständlich zahlen wir vorschriftsmäßig unsere
Steuern. Aber wie freuen wir uns klammheimlich, wenn wir wieder ein Schlupfloch
oder eine Gesetzeslücke gefunden haben, die uns Steuern sparen hilft.
Gewiss brechen wir nicht die Ehe. Aber mit was für Selbstverständlichkeit
wird inzwischen die Ehe als Ganzes in Frage gestellt und das So-Zusammenleben
achselzuckend hingenommen!?
Mit Sicherheit stellen wir keine falschen Behauptungen über unseren
Nächsten auf – aber mit welchem Genuss beteiligen wir uns an Gesprächen,
bei denen über jemand anderes hergezogen wird. "Ich will ja nicht
behaupten, dass..." sagen wir dann, "aber ich habe gehört, es verhalte
sich bei diesem Menschen so und so..."
Es ist klar, dass wir nicht – wie es im 9.+10. Gebot heißt, unseres
Nächsten Haus, hab und Gut begehren. Aber wie oft sind wir unzufrieden
mit dem, was wir haben, wenn wir es vergleichen mit anderen, denen es offenbar
noch besser geht als uns? Wie schnell stellt sich da Neid und Missgunst
ein!
Formal halten wir die Gebote und Gesetze ein – nach außen hin
sind wir untadelig. Aber Jesus will mehr. Er will nicht nur, dass wir Gesetze
halten und die Gebote nicht überschreiten. Er will, dass wir sie erfüllen,
indem wir ihrem Geiste entsprechend leben.
Was damit gemeint ist, hat m.E. (darf ich das als evangelischer Pfarrer
einfach so sagen?) Martin Luther meisterhaft in seinen Erklärungen
zu den 10 Geboten getroffen. Z.B. beim 7. Gebot (Du sollst nicht stehlen)
erklärt Luther: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir
unserm Nächsten sein Geld oder Gut nicht nehmen noch mit falscher
Ware an uns bringen, sondern ihm sein Gut helfen bessern und behüten."
Also "Du sollst nicht stehlen" heißt nicht nur, dem anderen nichts
wegnehmen, sondern sich für das Eigentum des anderen mit verantwortlich
fühlen.
Oder zum 8. Gebot (Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten
aussagen) erklärt Luther eindrücklich: "Wir sollen Gott fürchten
und lieben, dass wir unseren Nächsten nicht belügen, verraten,
verleumden oder ins Gerede bringen, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes
von ihm reden und alles zum Besten kehren." – Also nicht nur nicht mitmachen
beim Klatsch über andere, sondern ihm entgegenwirken, in dem man den
Betroffenen verteidigt.
IV
"Wie hältst Du's mit dem Grundgesetz?", so wurde auch einer meiner
ehemaligen Mitstudenten gefragt, als er sich beim Staat um eine Religionslehrerstelle
bewarb. Seine Antwort führte damals zu einer Ablehnung. Er sagte sinngemäß:
"Ich will in meinem Beruf dafür Sorge tragen, dass das Grundgesetz
in unserem Lande zur Geltung kommt und endlich verwirklicht wird." Die
Behörden empfanden diese Antwort als anmaßende Kritik am Staat.
Aber vielleicht war diese Antwort sehr nahe an dem, was Jesus meinte, wenn
er nach seiner Stellung zum Gesetz gefragt wurde. Das beste Gesetz ist
noch nicht genug, wenn es nur auf dem Papier steht oder nur nach dem Buchstaben
erfüllt wird. Das, was dieses Gesetz will – Gerechtigkeit, Freiheit,
Menschlichkeit – ja auch Brüderlichkeit unter den Menschen – muss
verwirklicht werden. Dann hat es seine Aufgabe erfüllt.
Nach Jesu Willen sollen wir als Christen gesetzestreue Menschen sein,
deren Treue zum Gesetz darin besteht, dass wir nicht nur das nicht machen,
was das Gesetz nicht erlaubt, sondern das fördern, was es schützt.
Nicht töten heißt dann für uns, uns überall
für das Leben einsetzen: Vom ungeborenen Kind bis zum hinfälligen
Alten, von der unscheinbaren Wiesenblume bis zum von der Brandrodung bedrohten
Regeenwald im Amazonas.
Nicht stehlen bedeutet dann, sich unbedingt einsetzen für das
Eigentum meines Nächsten, insbesondere dessen, der nur wenig oder
kaum etwas hat.
Und den Feiertag heiligen heißt dann nicht bloß die Sonntagsruhe
einhalten, sondern sie für andere erkämpfen und diesen Sonntag
durch Gottes Wort inhaltlich und geistlich füllen.
Die Richtung ist – so meine ich – angedeutet. Jeder und jede von uns
muss selber hier mit Phantasie und Liebe weiterdenken, damit wir aus Geboten
und Verboten, aus Paragraphen und Vorschriften das machen, was Jesus von
uns will: Dass Gerechtigkeit, Frieden, Barmherzigkeit und Liebe unter den
Menschen wachsen zum Lobe Gottes, der uns allen Leben, Gerechtigkeit und
Frieden schenken will. Amen.
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