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Liebe Gemeinde!
I
"Auf der Straße des Lebens" - so möchte ich diesen Bibelabschnitt
überschreiben. Auf der Straße des Lebens befinden wir uns alle.
Aber ob wir alle unsere Straße fröhlich ziehen, wie es am Schluss
dieser Geschichte heißt, kann bezweifelt werden. Denn diese Straße
sieht für jeden anders aus. Für manche mag es eine ganz normale
Straße sein: Im großen und Ganzen übersichtlich und gut
befahrbar. Da sind zwar ein paar Kurven, bei denen man noch nicht sehen
kann, wie es dahinter weitergeht, aber man kann sich doch ausrechnen, in
welche Richtung es geht. Relativ zügig und unbeschwert kommt man auf
dieser Straße voran. Das Leben: zielgerichtet, klar. Der Weg in Arbeit
und Beruf ist vorgezeichnet. Die Karriereleiter kann Stufe für Stufe
erklommen werden. Und auch in der Familie geht alles seinen geordneten
Gang.
Für andere aber ist die Straße mühsam und steil. Nur
sehr beschwerlich kommen sie voran. Tag für Tag schleppen sie sich
weiter und haben doch den Eindruck, sie kommen nicht vom Fleck. Tag für
Tag geht man seiner Arbeit nach, aber es ist immer das Gleiche. Man weiß
gar nicht, wozu.
Und daheim im Haushalt stets auch die gleiche Mühle: Aufräumen,
Kochen, Putzen, Waschen und kaum ist man rum, wenn man überhaupt rum
ist, fängt alles wieder von neuem an. Die Straße des Lebens
scheint im Kreis herumzuführen.
Viele Menschen fahren gern Autobahn - auch in ihrem Leben. Möglichst
kreuzungsfrei, ohne Hindernisse, rasch und zügig dorthin fahren, wo
alle hinfahren. Mit dem großen Strom schwimmen. Doch irgendwann wird
es langweilig und ermüdend. Oder es kommt der große Stau. Dann
wäre man am liebsten Geisterfahrer und möchte umdrehen. Doch
der Weg zurück ist verbaut.
Für andere ist die Straße des Lebens eine Sackgasse. Sie
hört plötzlich auf. Sie wissen nicht mehr weiter. Sie haben sich
verrannt oder eine Krankheit hat sie aus der Bahn geworfen. Oder sie finden
keine Arbeit. Da stehen sie nun und treten auf der Stelle.
II
In unserer biblischen Geschichte ist auch einer unterwegs auf der Straße
des Lebens. Sie führt ihn gerade von Jerusalem nach Gaza. Auf den
ersten Blick gehört er zu den Menschen, bei denen alles zielgerichtet
und klar ist. Ein Mann mit großem Erfolg und steiler Karriere: "Und
siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger
der Kandake, der Königin von Äthiopien, welcher ihren ganzen
Schatz verwaltete, der war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. Nun zog
er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja."
Mächtig und reich ist der Mann, einflussreich und gebildet. Er
ist auf dem Heimweg von einer gr0ßen Auslandsreise. 2000 Km war er
gefahren von seiner Heimat nach Jerusalem. Warum? - Hier komme ich ins
Stutzen. Nicht zu einem Staatsbesuch als Finanzminister seiner Königin,
nicht in offizieller Mission hatte er den langen, beschwerlichen Weg auf
sich genommen am Nil herauf, durch Wüste und Gebirge. "Um anzubeten"
heißt es hier ganz schlicht. Das ist ungewöhnlich für einen
Menschen, der es mit Fleiß, Energie und Durchsetzungsvermögen
so weit gebracht hat im Leben. Sollte es etwas geben, das ihn noch suchen
lässt? Suchen nach etwas Anderem, Höheren; Suchen nach Antworten,
die er nicht selber geben kann? Suchen nach Gott?
Vielleicht kann uns der griechische Urtext, in dem diese Geschichte
geschrieben steht, weiterhelfen. Für das Wort "Kämmerer". Das
Luther in seiner Übersetzung verwendet, steht nämlich im griechischen
der Begriff "Eunuch".
Er war also ein Eunuch. Und das war für einen Mann in seiner Stellung
nicht einmal ungewöhnlich. Äthiopien wurde damals von Königinnen
regiert, die den Titel "Kandake" führten, so wie die Herrscher von
Ägypthen "Pharao" hießen. Beamte am Hofe weiblicher Majestäten
mussten damals oft das Schicksal des Eunuchen, des Verstümmelten,
des Entmannten auf sich nehmen. Aus Sicherheitsgründen war man im
Orient damit schnell bei der Hand. Wer aufgestiegen war in eine hohe Stellung,
war auch gefährlich. Und wer am Hofe einer Königin Dienst tat,
der musste eben diesen Preis zahlen. Es sollten auf keinem Fall zu enge
Beziehungen zwischen der Königin und dem Minister aufkommen, keine
wechselseitigen Abhängigkeiten.
Mag sein, dass unser Kämmerer in jungen Jahren als Mann, der Karriere
machen wollte, diesem Eingriff zugestimmt hatte. Nun jedenfalls hat er
Karriere gemacht, ist oben angekommen, und er fragt wie so mancher, der
alles auf die Karte "Karriere" setzt: Hat es sich gelohnt? Habe ich nicht
doch Schaden genommen? Was hilft mir meine große Macht, mein Geld,
mein Einfluss? Habe ich neben meiner körperlichen Beeinträchtigung
durch meine hohe Stellung nicht auch viel an Menschlichkeit verloren?
Diese Fragen haben ihn vielleicht nach Jerusalem geführt. Warum
nach Jerusalem, 2000 Km von zuhause entfernt? Genügte ihm seine heimische
Religion nicht?
Nun, vielleicht hat er in seiner Heimat aus dem Munde eines jüdischen
Gastarbeiters etwas über Jahwe gehört, diesen einzigartigen Gott
Israels, der kein Bild von sich duldet und der diese ganze Welt erschaffen
haben soll. Vielleicht dachte er: Einmal dabei sein im weltberühmten
Tempel in Jerusalem und dann vielleicht für immer zu diesem Gott gehören,
der Antwort auf die Rätsel des Lebens weiß. Vielleicht! In dieser
Geschichte ist manches Ungesagte mit im Spiel. Jedenfalls ist er unterwegs
- auf der Straße von Jerusalem hinab nach Gaza. Eine einsame Straße
durch die Wüste.
III
Auch wir sind unterwegs auf der Straße des Lebens. Unsere Straßen
sind freilich selten einsam. Und doch sind wir meist allein. Z.B. im Auto
auf dem Weg zur Arbeit. Viele sind mit unterwegs. Doch jeder sitzt allein
in seiner Blechkiste. Und selbst dort, wo viele beieinander sind - im Bus,
im Zug oder der Straßenbahn: Kaum jemand redet mit dem anderen, jeder
ist umgeben von einem unsichtbaren Panzer, der ausdrückt: Rühr
mich nicht an!
Und doch: Sind diese Menschen unterwegs nicht alle lebendige Fragezeichen?
Sehnen sie sich nicht alle nach Gewissheit, Sicherheit, Halt? Woher komme
ich? Wohin gehe ich? Warum, wozu, wofür lebe ich?
Der französische Schriftsteller Duhamel hat das einmal so ausgedrückt:
"Jeder, der dich auf der Straße um Feuer für seine Zigarette
bittet, hat die Frage nach Gott auf der Zunge." Es ist nicht selten auch
die Frage an die Kirche, an uns Christen: Wisst ihr den Weg? Bekommen sie
eine Antwort?
Vielfach mag es den so - oft lautlos - Fragenden gehen wie jenem aufgeweckten
Berliner Jungen. Dieser Berliner Gassenjunge fragt in seinem nicht sehr
feinen Dialekt eine ältere Dame nach den Weg. Die sehr vornehme Dame
betrachtet den Jungen von oben herab und sagt dann: "Mein lieber Junge,
wenn du mit einer Dame sprichst, nimmst du zuerst einmal deine Mütze
ab und die Hände aus den Hosentaschen, vorher schneuzt du dich, und
dann sagt man: ‘Bitte, darf ich Sie um etwas fragen?'" - Der Junge hört
ganz verdattert zu, dann sagt er: "Nee! Da verloof ick mir lieba!"
Liebe Gemeinde! Ich frage das mit ganzem Ernst: Haben sich viele unserer
durchaus fragenden und suchenden Zeitgenossen deshalb von der Kirche abgewandt,
weil sie so sehr jener alten, äußerst vornehmen Dame gleicht,
die so viel Vorbedingungen stellt, bis man überhaupt mit ihr reden
darf? Das geschieht sicher nicht bewusst und ganz gewiss nicht mit Absicht.
Aber es ist doch tatsächlich so, dass die Sprache, die in der Kirche
gesprochen wird, die Formen, die Liturgien für viele heutzutage völlig
fremd geworden sind, so dass sie keinen Zugang mehr haben.
IV
Keinen Zugang fand auch der Kämmerer in Jerusalem. Seine Hoffnungen,
dort Antworten zu finden auf seine Fragen, haben sich nicht erfüllt.
Er, der Heide und zudem "Verschnittene" durfte nicht dazugehören,
so hatten ihm die Hüter der Religion bedeutet. Er stand nach jüdischer
Ansicht außerhalb der Heilsordnung. Man berief sich dabei auf 5.
Mose 23, Vers 2, wo es heißt: "Kein Entmannter oder Verschnittener
soll in die Gemeinde des Herrn kommen."
Es mag eine traurige Rückreise gewesen sein für den Kämmerer:
Keine Gewissheit, zu diesem Gott zu gehören, keine Gemeinschaft am
Altar, keine Frau, keine Familie, nur ein Topp-Beruf, berühmt, mächtig
und reich. Ein Trostpflaster, aber eben nur ein Pflaster blieb ihm: Sein
Geld. Und so kaufte er sich damit in Jerusalem eine der teuren Bibelhandschriften
- eine Jesajarolle. Und nun - auf der langen Rückreise - las er darin.
Er verstand jedoch nicht, was er las. Er brauchte jemanden, mit dem er
sprechen konnte; jemand, der ihm durch sein Wort und noch mehr durch sein
Nahesein die Schrift auftat.
Hier, liebe Gemeinde, wird deutlich: Die Bibel ist ein Buch der Gemeinschaft,
kein Buch der Privaterbauung. Wenn ich verstehen will, dann brauche ich
den anderen. Ich brauche "meinen Philippus". Nicht jemand, der mich von
oben herab belehrt, sondern der zu mir in meinen "Lebenswagen" steigt,
der sich - wie in unserer Geschichte von Gottes Geist gesandt - mir zuwendet
und ein Stück Wegs mit mir geht.
V
Lukas berichtet, der Geist habe Philippus gerufen. Was ist der Geist?
Er ist Antrieb und Mut. Da lässt sich einer darauf ein, in der größten
Mittagshitze auf einer öden Straße in der Wüste irgendwen
oder irgendwas zu erwarten. Und da wagt er es schließlich, sich an
jene vornehme Staatskarosse zu halten, die da südwärts rollt
und er wagt es sogar, den vornehmen Insassen anzusprechen. Geradezu vorlaut
mutet die Frage an: "Verstehst du auch, was du liest?"
In diesem Philippus begegnet uns die Geistesgegenwart Gottes in Person.
Es ist Christus selbst, als Geist der Liebe, der brüderlichen Nähe,
als Geist des Verstehens und der Zuneigung, der Philippus in Bewegung gesetzt
hat und der ihn genau im richtigen Moment auf den Kämmerer stoßen
lässt, als dieser die Stelle aus dem Jesajabuch liest, die ihn zu
Christus führen soll!
"Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus sprach: steh auf und
geh nach Süden..." Ja, da stehen andere Kräfte dahinter - gewiss
nicht der eigene Antrieb, auch nicht die Logik oder die Vernunft. Denn
warum sollte Philippus, der gerade in Samarien erfolgreich das Evangelium
von Jesus Christus verkündigte, seine Missionsarbeit dort liegen lassen,
um sich auf eine menschenleere und öde Straße zu begeben?
Doch Philippus tut es. Er geht dorthin, um zu sehen, ob da nicht vielleicht
doch jemand käme. Er folgt dem Antrieb des Geistes und macht sich
auf den Weg dorthin, wo nach menschlichem Ermessen nicht viel zu holen
ist.
Haben wir das nicht auch schon erlebt? Dass wir etwas getan haben,
was in der Situation eigentlich überhaupt nicht eingeplant war
- und sich im Nachhinein doch als das Richtige herausstellte? Mir jedenfalls
ist es schon einige Male so gegangen: Ich bin unterwegs und komme an einem
Haus vorbei und denke ganz plötzlich: Da musst du jetzt rein! Ich
habe aber überhaupt keine Zeit, einige Termine warten und auch sonst
ist noch so viel zu erledigen. Es geht jetzt einfach nicht. Und doch -
es ist eigentlich verrückt: ich klingle an der Tür. Und der ungeplante
Besuch zieht sich zwar über die Maßen hin, aber erweist sich
als überaus sinnvoll und notwendig. Als der Besuchte sich am Schluss
überschwenglich bedankt, kann ich nur bedeuten: Das ging nicht von
mir aus. Ich bin gesandt worden.
Ich denke, so mancher von uns könnte Ähnliches berichten,
dass er oder sie irgendetwas - eigentlich Widersinniges - getan hat,
was schließlich doch gerade richtig war. Jeder von uns könnte
aber wahrscheinlich auch - und das mag leider noch viel öfter der
Fall sein - davon berichten, dass er oder sie eigentlich etwas so Widersinniges
hätte tun und dieser inneren Stimme hätte folgen sollen und es
dann doch gelassen hat; dass er/sie dem Antrieb des Geistes letztendlich
doch nicht gefolgt ist, dass er/sie doch lieber den bequemeren, naheliegenderen
Weg gegangen ist.
Doch auf der Straße des Lebens lohnt es sich allemal wieder,
die breiten, ausgebauten und zügigen Wege zu verlassen und sich auf
ein Abenteuer einzulassen wie Philippus. Denn: Könnte es nicht durchaus
sein, dass diese Geschichte uns sagen will: Jeder von uns kann einem anderen
Menschen ein Philippus werden - nämlich ein Helfer zum Verstehen?
Möglicherweise hat jeder von uns seinen Äthiopier, zu dem er
in den Wagen steigen soll; einen Menschen, der sich mit seinen Fragen quält.
Sicher: Unsere Zeitgenossen fahren kaum mit einem aufgeschlagenen Jesajabuch
an uns vorbei und fragen nach der Bedeutung des Textes. Aber ganz gewiss
haben Viele fragen an den Text ihres eigenen Lebens. Und da könne
es durchaus hilfreich sein, wenn mal einer kommt und fragt: Verstehst du
auch, was dies oder das in deinem Leben bedeutet und was Gott damit gemeint
hat? Und so mancher wird dem anderen antworten: "Wie kann ich verstehen,
wenn mich nicht jemand anleitet?"
Und dann gilt es, aufzusteigen, ein Stück Weg geleiten, mit dem
anderen mitzugehen.
Merken wir, was das bedeutet? Den Lebensweg des anderen besteigen,
heißt das; sich in seine Verhältnisse, in seine Lage versetzen,
sich auf seine Ebene begeben.
Um andere zum Verstehen zu helfen, muss man sie selber ein Stück
weit verstehen und sich auf ihrer Ebene treffen. Deshalb steigt Philippus
in den Wagen ein und fährt mit dem Kämmerer mit. Er sagt nicht:
"Komm, dreh um! Du musst zu uns in die Kirche kommen, da findest du Antwort
auf deine Fragen!" Er verweist ihn auch nicht auf irgendwelche Schriftgelehrten
und Experten. Er schickt ihn nicht zu einem der Apostel. Nein, er - mehr
Laie als Theologe - sieht sich jetzt gefordert und geleitet den Fremden
ein Stück seines Weges.
Müsste unsere Kirche nicht viel mehr zu einer Philippuskirche
werden; eine Kirche, deren Glieder zu den anderen, zu den Fremden,
zu den auf so verschiedene Weise Verschnittenen geht? Also nicht immer
bloß warten, dass die anderen, die Fremden kommen und sich darüber
ärgern, dass sie sonntags eben nicht da sind im Gottesdienst. Ich
denke, wir sollten viel mehr "Kirche unterwegs" sein: Kirche unterwegs
auf der Straße des Lebens - und zwar nicht Kirche als Institution,
sondern als Gemeinschaft von Menschen, die wie Philippus, andere ein Stück
weit begleiten.
Wenn wir das glaubwürdig tun, dann - so bin ich überzeugt
- könnte es durchaus geschehen, dass einer sagt: "Siehe, da ist Wasser,
was hindert's, dass ich mich taufen lasse?" Ich meine das im übertragenen
Sinne, denn die meisten, auch dieser der Kirche Fremden, sind ja getauft.
Aber so wie der Kämmerer das Wasser der Taufe begehrt, könnten
sie nach Zeichen, nach Hilfen fragen, nach etwas, das ihnen, die vorher
keinen Zugang hatten, wieder Gemeinschaft mit Gott, mit Jesus Christus
geben kann. Vielleicht könnte es dann von der Weggemeinschaft zur
Tischgemeinschaft kommen, vielleicht auch schließlich zur Gemeinschaft
bei Brot und Wein, zur Abendmahlsgemeinschaft, wo sie kommen, schmecken
und sehen können, dass dieser Jesus Christus das Lamm ist, das
den Mund nicht aufgetan und sich in seiner ganzen Liebe für uns dahingegeben
hat.
Wer das glaubwürdig erfährt in einer lebendigen Gemeinschaft
von Christen, von dem könnte es dann auch heißen: "Und er zog
seine Straße fröhlich." Amen.
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