Predigt 1 Pfarrer Karle
 
Predigt von Pfarrer Hans-Georg Karle
Gehalten am 28.05.2000 (Sonntag Rogate) in Urbach
Biblischer Text: Kolosser 4,2-4

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Der Predigttext für den Sonntag Rogate steht im Brief des Apostels Paulus an die Kolosser, Kapitel 4, die Verse 2-4: (Einheitsübersetzung)
Lasst nicht nach im Beten; seid dabei wachsam und dankbar!
Betet auch für uns, damit Gott uns eine Tür öffnet für das Wort und wir das Geheimnis Christi predigen können, für das ich im Gefängnis bin;
betet, dass ich es wieder offenbaren und verkündigen kann, wie es meine Pflicht ist.
Liebe Gemeinde!
In Urbach gibt es einige Gebetskreise. So trifft sich an jedem 1. Montag des Monats in einen unserer Kirchen bzw. Gemeindehäusern der ProChrist-Gebetstreff, der seit der Vorbereitung der ersten ProChrist-Veranstaltung im Jahre 1997 besteht. Eine Gruppe von Müttern (sie nennt sich "Mütter in Kontakt") betet regelmäßig für Schüler und Lehrer und das Geschehen an unseren Schulen. Und einige unserer Jugendmitarbeiter kommen am ersten Mittwoch des Monats schon um 6 Uhr zum Gebetsfrühstück zusammen.
Manche mögen darüber den Kopf schütteln und andere sagen: "Die wollen wohl besonders fromm sein!" Beten, so denken sie, das ist schon recht. Aber nicht jedermanns Sache. Beten, das ist etwas für Leute, die schon besonders weit sind im Glauben. Beten, das überlassen wir lieber den Spezialisten, den Pfarrern und den "Stundenleuten".
Ganz anders sagt unser heutiger Predigttext zu uns allen:
"Lasst nicht nach im Beten; seid dabei wachsam und dankbar!" Paulus will uns mit unserem heutigen kurzen Bibelabschnitt ganz deutlich sagen: Das Gebet ist nicht ein zur Not entbehrlicher Spezialausdruck des Glaubens, eine Besonderheit für die ganz Frommen. Beten ist vielmehr eine Grundhaltung des Glaubens. Indem wir für uns und für andere beten bitten, bringen wir zum Ausdruck, dass wir auf's Empfangen angewiesen sind, dass wir Gott brauchen.
Glauben ohne Gebet ist deshalb wie Theorie ohne Praxis. Glaube ohne Gebet ist auf die Dauer genauso wenig möglich wie die Gemeinschaft mit anderen ohne Gespräch. Eine Ehe, in der die Partner nicht mehr miteinander reden, zerbricht. Kinder, denen die Eltern kein Gehör schenken, verkümmern. Freunde, die sich aus den Augen verlieren und nicht mehr einander schreiben oder miteinander telefonieren, entfremden sich.
Genauso wenig kann der Glaube, der nicht mehr mit dem spricht, an den er glaubt, auf die Dauer Bestand haben.
Gewiss: Es ist etwas anderes mit dem Gebet als wenn ich telefoniere und eine direkte Antwort auf meinen Anruf bekomme oder wenn ich einen Antwortschreiben auf meinem Brief erhalte.
Aber verhält es sich nicht vielmehr so, dass Gott uns schon längst angerufen hat und er auf unsere Antwort wartet? "Ich bin dein Gott. Ich bin für dich da!" hat er einem jeden von uns bei seiner Taufe gesagt und jetzt wartet er darauf, dass wir sein Angebot, sein "Für-uns-da-sein" in Anspruch nehmen.
Ist es nicht so, dass Gott uns schon längst geschrieben hat und wir tagtäglich in der Bibel nachlesen können, was er uns sagen will und es an uns liegt, darauf zu antworten?
Und ist nicht jeder neue Tag, an dem wir gesund aufstehen dürfen, ist nicht jedes Essen, das wir zu uns nehmen, wenigstens en gesprochenes "Danke!" wert, das wir dem sagen, von dem wir es letztlich empfangen haben?
Nein, liebe Gemeinde, das Gebet kann nicht Spezialisten in Glaubensdingen vorbehalten bleiben! Wer glaubt, der betet - in welcher Form auch immer. Wer nicht betet, dessen Glaube, dessen Verbindung mit Gott ist zumindest ernsthaft gestört.
Ich will damit niemandem den Glauben absprechen, der nicht  - wie wir uns das Beten in der Regel vorstellen - mit gefalteten Händen und gesenktem Blick Worte des Gebets formuliert. Es gibt eine Gebetshaltung, die auch in der Stille oder in Gedanken die Verbindung mit Gott pflegt.
Ja, diese Haltung, diese stetige innere Verbindung mit Gott, die sich gar nicht in bestimmten Gesten ausdrückt, ist wohl auch gemeint, wenn Paulus hier schreibt: "Lasst nicht nach im Beten; seid dabei wachsam und dankbar!" oder wie er es im 1. Thessalonicherbrief sagt: "Betet ohne Unterlass!" Das kann ja nicht heißen, dass wir pausenlos Gebete sprechen wie ein tibetanischer Mönch mit seiner Gebetsmühle. Vielmehr: Wie man mit dem liebsten Menschen auch dann im Gespräch ist, wenn man ihn nicht unmittelbar vor sich hat und kein ausdrückliches Zwiegespräch, sondern vielmehr eine innere Zwiesprache auch  in Abwesenheit mit ihm stattfindet, so kann dies erst Recht mit dem Herrn geschehen, der uns allezeit begleitet und umgibt.
"Lasst nicht nach im Gebet" oder wie Luther übersetzt: "Seid beharrlich im Gebet!", das bedeutet jedenfalls, dass das Gebet nicht nur Sache weniger Augenblicke sein kann: etwa Augenblicke besonderer Konzentration oder der Erhabenheit oder gar der frommen Stimmung. Es will eine Sache von Bestand, von Dauer, bzw. eine Sache der regelmäßigen Übung sein. Dranbleiben! Mahnt uns der Text.
Und deshalb ist Regelmäßigkeit im Gebet hilfreich und eine feste Gebetsübung von Nutzen.
Ich weiß: Die Gefahr ist groß, dass solches regelmäßige Beten zu bestimmten Zeiten, etwa zu den Mahlzeiten zur Gewohnheit erstarren kann. Doch wer es deshalb abstellt oder es von seiner je und dann vorhandenen inneren Bereitschaft abhängig macht, lernt es nie oder verlernt es gewiss. Wie schnell wird dort, wo nicht mehr regelmäßig zu Tisch und nicht mehr jeden Abend mit den Kindern beim Zubettgehen gebetet wird, überhaupt nicht mehr gebetet!
Und wenn auch unser regelmäßiges Beten manchmal nur oberflächlich ist: Gott weiß, dass es bei uns oft nicht so gehen will, wie es sollte: Müdigkeit, Leere, Mangel an Vertrauen sind oft Hindernisse zum rechten und bewussten Beten.
Doch gerade der in diesen Fragen Angefochtene darf wissen: Vor Gott gibt es den von ihm gefürchteten Leerlauf nicht. Gott kalkuliert die Mängel und Schwächen unseres Betens immer ein und nimmt auch unser Gestammel ernst. Das Gebet, das sich an Gott wendet, hat Kraft auch in Zeiten der Dürre und Unfähigkeit, wie Paulus in Römer 8 schreibt: "Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen. Der aber die Herzen erforscht, der weiß, worauf der Sinn des Geistes gerichtet ist; denn er vertritt die Heiligen, wie es Gott gefällt." Die kläglichste Ausdrucksarmut beim Beten ändert nichts daran, dass Gott uns hören will und dass er uns liebt.
Der Geist vertritt uns auch dort, wo wir nur ungenügend beten, schreibt Paulus. Oder anders ausgedrückt: Für und zugleich mit uns betet Jesus Christus, wenn wir "in Jesu Namen" beten, also unter Berufung auf Ihn und einbezogen in sein eigenes Beten.

Wenn nun also die Form unseres Gebets unerheblich ist - ob wohlgesetzt oder stammelnd, ob mit gefalteten Händen oder in stiller gedanklicher Verbindung mit Gott, so nennt Paulus doch noch ein paar Dinge, die beim Beten wichtig sind:

"Lasst nicht nach im Beten; seid dabei wachsam und dankbar!" Wachsam sollen wir beten. Ich deutete es schon vorher an: Geistliche Müdigkeit ist gefährlich, denn man gewöhnt sich schnell daran: Es geht scheinbar auch ohne den Kontakt mit Gott. Im Gespräch mit der höchsten Stelle, das erfordert nicht nur Wachheit, das macht  auch wach. Wer betet, kann nicht in Dumpfheit und Verschlafenheit, im Dösen und Dämmern verharren. Ihn interessiert diese Welt plötzlich ganz neu, weil es Gottes Welt ist und ihm werden plötzlich die Augen geöffnet für die Menschen um ihn herum, die ja auch Gottes Kinder und damit seine Brüder und Schwestern sind. Wer betet, trifft Entscheidungen, nimmt Stellung, lebt bewusster, eben wacher.
Und wach sein im Gebet hat schließlich noch eine andere Bedeutung. Wer zu Gott betet, der rechnet auch mit dem Tag Christi, an dem diese Welt zum Ziel kommt. Er lebt nicht mehr in den Tag hinein, als ob es keinen Gott und keinen Richter gäbe, der einmal über uns richten und entscheiden wird. Das ständige, beharrliche Gebet ist dann die Weise unseres Wachens und Bereitseins für Christi Kommen, das Jesus immer wieder gefordert hat mit den Worten: "Wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde!" Wer sich gerade im Gebet mit dem Herrn im Gespräch befindet, wird nicht erschreckt auffahren, wenn dieser plötzlich in Herrlichkeit auf ihn zukommt.
"Seid im Gebet wachsam und dankbar" fährt Paulus fort. Das heißt zunächst nicht: Betet, aber vergesst das Danken nicht, wenn euer Gebet erfüllt wurde. Sondern: Betet in dankbarer Haltung! Allein dass ich mit Gott reden und ihn bitten darf, ist des Dankens wert. Dank ist auf Gott zurückgewendete, ihm gegenüber geäußerte Gebetserfahrung.
Auch das Danken will eingeübt sein. Wer träumt und döst, kassiert Gottes Segnungen stumpfsinnig und gedankenlos ein (und in dem Wort "gedankenlos" ist ja auch Danklos enthalten). Umgekehrt: Wer sich im Danken übt, darin also "wachsam" ist, betet aus der Erfahrung empfangener Segnungen heraus, also wissend und desto mehr vertrauend. Der Dankende wird, weil er die Augen aufmacht, immer mehr von den sonst leicht übersehenen Wohltaten Gottes wahrnehmen. Fehlt das Danken, entartet das Gebet zur Eigensucht und zum Wunschkatalog und wir machen Gott zu unserem Lakaien.
Wenn Gott dann unsere Wünsche nicht erfüllt, sind wir oft schnell enttäuscht und behaupten: "Beten ist zwecklos. Gott erhört es ja doch nicht!" Wenn wir nur auf unsere Wünsche fixiert sind, werden wir blind für die anderen, vielleicht besseren wege, die Gott mit uns gehen will. Es geht uns dann wie jenem Buben, der vor lauter Enttäuschung, das heiß gewünschte elektrische Auto an Weihnachten nicht bekommen zu haben, die elektrische Eisenbahn auf dem Gabentisch übersieht.
Paulus schließt mit den Worten: "Betet auch für uns, damit Gott uns eine Tür öffnet für das Wort und wir das Geheimnis Christi predigen können, für das ich im Gefängnis bin; betet, dass ich es wieder offenbaren und verkündigen kann, wie es meine Pflicht ist."
Paulus erinnert uns damit an einen weiteren, sehr wichtigen Aspekt des Betens: Die Fürbitte.
Wer immer nur für sich selber betet, bleibt in sich selber gefangen. Manch frommer Beter ist in seiner religiösen Selbstvertiefung zutiefst unerlöst. Ihm wäre geholfen, wenn er - auch in seinem Beten - zum anderen fände. Es könnte sein, dass sich die eigenen Probleme und Schmerzen lösen oder leichter werden in dem Augenblick, da man lernt, sich bei Gott für andere stark zu machen.
Paulus bitte die Kolosser darum: "Betet auch für uns..." Aber ist er damit nicht auch egoistisch? Sollte er nicht lieber dazu auffordern: "Betet für die anderen Gemeinden Kleinasiens und für die unter euch, die es am schwersten haben", anstatt dass er für sich die Fürbitte beansprucht? Aber unser Verdacht ist sofort behoben. Dächte Paulus nur an sich, dann hätte er geschrieben: "betet darum, dass ich so schnell wie möglich aus dieser schrecklichen Gefängniszelle herauskomme, in der ich mich befinde!" Und solche Bitte wäre durchaus verständlich und berechtigt. Doch auf sich selbst ist Paulus am allerwenigsten bedacht. Es geht ihm immerzu um die anderen. Und es geht ihm um die Sache! Gott möge ihm eine Tür für das Wort auftun. Darum geht es ihm. Darum bittet er die Kolosser. Ob das dadurch geschehen soll, dass er freigelassen wird, ist ihm zweitrangig. Hauptsache: das Wort läuft weiter und er hat die innere Freiheit und Möglichkeit, das weiterzugeben, was er sagen muss: Das Geheimnis Christi, das eben nicht darin besteht, dass es geheim bleibt, sondern aller Welt offenbar wird, was Gott für sie in Christus getan hat.
Damit ist auch der Akzent für unsere Fürbitte heute gesetzt. Wir dürfen, ja sollen für jeden bitten: Für unsere Angehörigen und Freunde, für unsere Mitchristen; für die, die keine Christen sind, auch für unsere Feinde, ja für die ganze Welt. Wir dürfen nicht nur für deren aller Wohlergehen bitten. Wir dürfen und sollen noch mehr: Ihr Heil soll uns am Herzen liegen! Dass überall sich Türen öffnen für Gottes Wort und Herzen verändert werden. Ja, gerade da liegt der Schlüssel für die Überwindung von Hass und Gewalt, für den Abbau der Ungerechtigkeit zwischen reich und arm, für die Versöhnung zwischen Menschen und Völker!
Heute, am Sonntag Rogate, wird in unserer Landeskirche in besonderer Weise der Mission gedacht und für sie geopfert. Der Zusammenhang wird uns hier deutlich: Das fürbittende Gebet der Christen ist darauf aus, dass aller Welt das Heil verkündet wird, von dem wir leben. Dass solches Gebet die helfende Tat nicht ausschließt, sondern - im Gegenteil - sie geradezu zur Folge hat, sollte selbstverständlich sein. Jochen Klepper hat das in seinem "Mittagslied" so ausgedrückt:
 "Die Hände, die zum Beten ruhn,
 die macht er stark zur Tat.
 Und was der Beter Hände tun,
 geschieht nach seinem Rat."
Bei unserem heutigen Opfer für unser Missionsprojekt kann dies ein Stück weit konkret werden. Wir wollen für die vielen Straßenkinder in der peruanischen Hauptstadt Lima beten, die in ärmlichsten Verhältnissen, bedroht von Obdachlosigkeit und Kriminalität aufwachsen und wir wollen unsere Hände öffnen und mit unserem Opfer zur Finanzierung der beiden großen Kindertagesstätten des Kinderwerks Lima Comas und El Agustino beitragen, in denen täglich 1800 Kinder und Jugendliche eine gute Schulausbildung, ein gesundes Frühstück, ein warmes Mittagessen und Verpflegung für den Abend, sowie medizinische Betreuung erhalten; und wo sie vor allem die Kraft christlicher Nächstenliebe verspüren und einmal selber weitergeben können.
Und Gott möge alles: die Menschen dort, die Arbeit an ihnen und unser Opfer segnen. Amen.

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