Predigt 1 Pfarrer Karle
 
Predigt von Pfarrer Hans-Georg Karle
Gehalten an Karfreitag, 21.04.2000 in den Kirchen in Urbach
Biblischer Text: Matth.27,33-51

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Der Predigttext für den heutigen Karfreitag steht im Matthäusevangelium, Kapitel 27, Vers 33-51:
Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte,
gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er's schmeckte, wollte er nicht trinken.
Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.
Und sie saßen da und bewachten ihn.
Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.
Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe
und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!
Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen:
Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir an ihn glauben.
Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.
Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.
Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia.
Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken.
Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe!
Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.
Liebe Gemeinde!
In meiner Bibel steht über dem Abschnitt, den wir soeben gehört haben, die knappe Überschrift: "Kreuzigung und Tod". Und in der gleichen, geradezu aktenmäßigen Kürze wie in dieser Überschrift angedeutet, berichtet uns Matthäus diese schrecklichen Ereignisse. Er deutet die körperlichen Qualen, die Jesus erleidet, nur an. Ausführlich beschreibt er hingegen, was um das Kreuz herum geschieht, was die Leute denken, sprechen und tun, die Zeugen dieses Ereignisses sind.
In der Szenen können wir diesen Bericht aufteilen und fragen: Wo stehen wir in diesem Geschehen:
 I. bei den Soldaten, die kreuzigen, oder
 II. bei den Menschen, die schmähen oder
 III. bei Jesus, der stirbt?
I
Da sind die Soldaten, die kreuzigen.
Kalt, gefühllos tun sie ihre grausame Pflicht. Ja, damit das Grausame nicht zur gewohnten Routine wird, lassen sie sich noch etwas einfallen: den betäubenden Trank, der den Todgeweihten vor der Hinrichtung gereicht wurde - gewöhnlich Wein mit Myrrhe - wandeln sie diesmal ab. Nicht Myrrhe, sondern bittere, ekelerregende Galle mischen sie bei: Der Rest von Menschlichkeit, der in diesem Betäubungstrank liegt, wird noch durchsetzt mit Gehässigkeit. Offensichtlich sind Menschenverachtung, Brutalität und Gefühllosigkeit die Schutzschicht die Henker um ihr Innerstes legen müssen. Brutalität gehört zu ihrem Handwerk: den Verurteilten festhalten, ihn annageln, das Einheben des Querholzes mit seiner Last in den fest eingerammten Pfahl - da kann man nicht zimperlich sein. Die Verlosung der Kleider ist da für das Vollstreckungskommando eine willkommene Ablenkung.
Arme Menschen, deren Dienst darin besteht, solche Exekutionen auszuführen! Es war sicher nicht ein Einzelfall, dass sie diese Arbeit tun mussten. Kreuzigung, diese grausamste Todesstrafe der Antike, gehörte bei den Römern zur Tagesordnung. Quintilius Varus hat einmal 2000 Juden in einer Strafaktion kreuzigen lassen; der Kaiser Titus während der Belagerung Jerusalems an manchen Tagen mehrere Hunderte. Zu was Menschen fähig sein können! Wie Menschen mit Menschen umgehen! Ist es verwunderlich, dass Soldaten, die dieses Geschäft tun müssen, abstumpfen und gleichgültig werden?
Wir sind doch auch schon abgestumpft! Müssten wir sonst nicht tagtäglich aufschreien vor Empörung über die Grausamkeit in unserer Welt? Die Nachrichten sind voll von Berichten über Quälereien und Kriegsgreuel in aller Welt. Aber sie lassen uns kalt, die Bilder aus Tschetschenien, Zimbabwe, Sudan und wo sonst noch, weil inzwischen unsere Fernsehanstalten sich bei den Vorschauen ihrer Filme geradezu lustvoll überbieten an Actionszenen voller Brutalität und blutrünstiger Gewalt. Damit kann man scheinbar Quote machen: je brutaler, um so höher die Einschaltquoten, um so mehr Werbeeinnahmen.
Sehen wir da noch die realen, die wirklichen Opfer von Krieg und Gewalt, die Gefolterten und Geschundenen in den Gefängnissen totalitärer Staaten, die ins Flüchtlingselend gestoßenen Frauen, Kinder und Alten in den Elendsgebieten dieser Welt?
Inmitten dieser - meist unbeachteten Opfer steht Jesus und sein Kreuz. Er, der Sohn Gottes, steht an der Seite der Gemarterten aller Zeiten und Völker.
Wo stehen wir, liebe Gemeinde? Sind wir anders als die Soldaten, die kreuzigen, wenn wir achselzuckend das Elend dieser Welt einfach bloß als unvermeidlich hinnehmen?
Wir können, das sagt uns Matthäus mit seinem nüchternen Bericht, nicht gefühlvoll den Karfreitag begehen und gleichzeitig am Leiden und den Grausamkeiten dieser Welt gleichgültig vorübergehen.
II
Jesus wird ans Kreuz gehängt. Doch damit nicht genug. Schmach und Hohn der Kreuzigung setzen sich fort in den Schmähungen der Umstehenden. Zunächst sind es Vorübergehende, die spotten; Passanten also, die dort nichts zu tun haben, aber sich das ganze Schauspiel nicht entgehen lassen wollen. Sie schütteln ihre Köpfe - gleichsam abwehrend und als wollten sie sagen: "Nein, nein - wie einem nur so etwas passieren kann!". Ihr Spott soll Distanz schaffen zwischen ihnen und dem, der ihnen da so schrecklich nahe gekommen ist: "Hilf dir doch selber!" sagen sie und merken nicht, dass er es ist, der ihnen hilft mit diesem Tod.
Ein Wunder fordern sie von dem, der so viele Wunder getan hat: "Steig herab vom Kreuz!"
Doch das Wunder geschieht nicht. Der Abstieg vom Kreuz erfolgt nicht. Gottes Ausstieg aus dem Leid findet nicht statt.
Lästernd und triumphierend konstatieren das auch die jüdischen Autoritäten, die Hohenpriester samt den Schriftgelehrten und Ältesten. Sie sehen ihr Urteil über Jesus ganz offenbar bestätigt. Er ist nicht der, für den er sich ausgegeben hat. Sonst würde er längst nicht mehr hier hängen. Und um den Spott auf die Spitze zu treiben, fordern sie ein Gottesurteil heraus - selbstverständlich in der sicheren Erwartung, dass Gott sich zu diesem Ketzer und Lästerer nicht bekennen wird: er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun; wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn."
Sie sind so aufregend dicht an der Wahrheit, die Spötter: "andern hat er geholfen", das müssen sie sogar selber zugeben, nur sehen sie in seiner augenblicklichen Hilflosigkeit die Widerlegung alles dessen, was bisher war. "Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen", sagen sie. Wenn sie sagen würden: selber will er sich nicht helfen", dann hätten sie die ganze Wahrheit erfasst; denn damit, dass er sich selber nicht hilft, hilft er tatsächlich allen anderen, nämlich denen, die an ihn glauben und sich von ihm retten lassen. Weil Jesus der Versuchung der Spötter widerstanden hat und nicht vom Kreuz gestiegen ist, weil er gehorsam war bis zum Tode am Kreuz, ist uns allen die Rettung ermöglicht worden.
Um die Isolierung Jesu vollständig zu machen, nehmen selbst seine beiden mitgekreuzigten Schicksalsgenossen und Leidensgefährten Abstand von ihm (nach lk nur einer der beiden). Auch sie, so berichtet Matthäus, wollen nichts mit ihm zu tun haben, so als wollten sie sagen: "Wir sind anständige Verbrecher, wir haben wenigstens etwas handfestes verbrochen!"
Merken wir, was hier geschieht: Hier kommt zu den entsetzlichen körperlichen Qualen und zur Not des Vergehen-Müssens auch noch die bewusst gewollte moralische Vernichtung. Kein Wort des Mitgefühls, der wenigstens versuchten Solidarität mit dem, der unschuldig diesen schweren Tod ausstehen muss. Erst recht nicht der Zuspruch, wie ihn ein Märtyrer verdiente: Du bist zwar unter die Räder gekommen (wir konnten's leider nicht verhindern), aber wir haben Respekt vor dir, du stirbst für eine große Sache!"
Nicht der leiseste Versuch von irgendeiner Seite, dem Gequälten beizustehen. Statt dessen nur Hohn.
Als wäre er dabeigewesen, weissagt Jesaja: "Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit."
Wo stehen wir, liebe Gemeinde? Sicher nicht bei denen, die Jesus schmähen und verspotten. Oder?
Es gibt, glaube ich, eine furchtbare Schmähung und Verspottung des für uns leidenden und sterbenden Jesus auch unter uns Christen. Sie drückt sich in der Haltung aus, die sagt: Was soll's mit meiner Schuld und mit meinen Verfehlungen. Ist ja nicht weiter schlimm! Jesus ist ja dafür gestorben, dass ich Vergebung meiner Sünden erlange! - Vielleicht karikiere ich ein bisschen, aber steckt nicht diese Haltung der Verharmlosung, dieses Bauen auf eine billige Gnade in uns allen drin? Und fügen wir nicht mit dieser Unbekümmertheit über unsere Sünde und Schuld dem Leiden Jesu neue Qualen hinzu?
Jedenfalls, so mahnt uns Matthäus mit seinem Bericht, können wir nicht feierlich den Karfreitag begehen, ohne zutiefst zu erschrecken über die menschliche Sünde allgemein und unsere persönliche Schuld insbesondere.
III
Einsam, von allen verlassen, hängt Jesus am Kreuz. Die Jünger waren als erste fort - nur die Frauen stehen "von ferne". Die Soldaten sind nur da, um ihn umzubringen. Die Spottenden haben nichts im Sinn, als ihn moralisch fertigzumachen. Sie fordern Zeichen seiner Macht.
Doch nichts geschieht. Selbst die Natur scheint den Spötern recht zu geben. Es wird finster. Der, der von sich gesagt hat, er sei das Licht der Welt, er endet in der Finsternis.
Und Gott? Gott schweigt. Jetzt ist Jesus völlig verlassen. Jetzt kann Jesus sich nur dahin flüchten, wo schon einmal der Psalmdichter sich in seiner Gottverlassenheit zu Gott geflüchtet hat. Der Sterbende "schreit auf" - schreiend betet er die Anfangsworte des 22. Psalms: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Er betet eins der Gebete seiner Kirche. Er klammert sich daran, auch wenn er für seine Person mit Gegenwart und Beistand Gottes nicht mehr rechnen kann. Er sieht sich von Gott verlassen - und betet doch: "Mein Gott!"
Liebe Gemeinde! Können wir hier stehen? Können wir bei Ihm bleiben, bei diesem Jesus, der stirbt? Können wir diese Verlassenheit durchhalten, die auch im größten Leiden und in der schrecklichsten Bedrängnis daran festhält, dass der Gott, der mich verlassen hat, dennoch mein Gott ist?
Wir können es, wir dürfen es, wir sollen es. Denn da, wo Gott am fernsten zu sein scheint, da ist er in Wirklichkeit am nächsten. In dem Moment, da Jesus stirbt, da heißt es: "Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus." Der Zugang zum Allerheiligsten ist frei. Nichts kann uns mehr scheiden von der Liebe Gottes: Keine Trübsal, keine Angst, keine Schuld und kein Tod. Jesus hat dies alles mit seinem schrecklichen Tod auf sich genommen und aus den Weg geräumt.
Seither dürfen wir wissen: Auch in der größten Not, selbst im Tod sind wir nicht allein. Einer ist bei uns, der selber die größte Einsamkeit und Not durchlitten hat. Wenn wir bei Ihm bleiben, uns an Ihn halten, dann nimmt er uns an der Hand und führt uns durch den Tod hindurch zum ewigen Leben.
Das Osterfest, das wir in drei Tagen feiern, ist die Bestätigung dafür. Gott hat nicht geschwiegen. Er hat seinen Sohn nicht endgültig dem Tode überlassen. Er hat ihn auferweckt. Wir können aber - das sagt uns dieser Bericht des Matthäus auch - wir können Ostern nicht recht feiern, ohne dass wir am Kreuz Jesu stehen bleiben und auf das glaubend schauen, was für uns hier geschah.
IV
Wo stehen wir?, so haben wir mehrfach gefragt: Stehen wir bei den Soldaten, die kreuzigen; stehen wir bei denen, die das Leiden, die Grausamkeit und Gewalt dieser Welt gleichgültig lässt?
Oder stehen wir bei denen, die Jesus schmähen, die seine Passion, sein bitteres Leiden nicht ernstnehmen, weil sie ihre eigene Schuld nicht ernstnehmen?
Oder stehen wir bei Ihm, bei Jesus? Stehen wir bei ihm in allen Lebenslagen, in guten und schweren Zeiten? Bauen wir auf ihn und auf das, was er für uns getan hat, auch dann, wenn Gott uns scheinbar sehr fern ist?
Das sind die Fragen, die der Karfreitag an uns stellt. Wohl dem, der darauf antworten kann:
 "Ich bin dein; sprich du darauf dein Amen!
 Treuster Jesu, du bist mein!
 Drücke deinen süßen Jesusnamen
 brennend in mein Herz hinein!
 Mit dir alles tun und alles lassen,
 in dir leben und in dir erblassen,
 das sei bis zur letzten Stund
 unser Wandel, unser Bund." Amen.
 

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