Predigt Vikar Seibold 1

Vikar Gunther Seibold
Predigt zum 29. August 1999
Gehalten in der Afrakirche in Urbach
Biblischer Text: Lk.10,25ff (der barmherzige Samariter)
Thematische Stichwörter: Diakonie, Nächstenliebe, Helfen


 Liebe Gemeinde!

 Anknüpfen: Helfer- und Hilfeerfahrungen

Wo geholfen wird, da sind immer zwei:
Der, der hilft und der, dem geholfen wird.

Wer fällt Ihnen bei der Erinnerung an Hilfsaktionen ein?
Denken Sie an die Helferin?
Oder fällt ihnen die ein, der geholfen wird?

Vielleicht fallen uns auch eigene Erfahrungen ein:
Wir als Helfer und Helferin oder als solche, denen geholfen wird.
Ich denke, es ist gut beides zu kennen
und beides zu können  -
Helfen und sich helfen lassen.

Um beide Seiten soll es auch in der Predigt heute gehen,
um die Beziehung vom Hilfeempfänger zum Hilfegeber
und umgekehrt.

 Es geht um die Frage nach dem Nächsten

Beide verbindet nämlich ein Wort,
um das es heute gehen soll:
Das Wort des "Nächsten".

Die Geschichte, die Jesus erzählt hat,
um dieses Wort zu erhellen,
heißt "der barmherzige Samariter"
und sie ist über die Christenheit hinaus weit bekannt.
Sie ist vielen so bekannt, diese Geschichte,
dass sie zu denen gehört,
wo man beim Lesen gar nicht mehr mit Neuem rechnet.

Und trotzdem ist es mir bei der Vorbereitung so gegangen,
dass sich mir ein ganz neuer Sinn der Geschichte gezeigt hat,
als ich sie mehr von hinten her las.
Ich las nämlich die Geschichte immer
als Antwort auf die folgende Frage:
"Wer ist mein Nächster?"
Oder anders gesagt: "Wen soll ich lieben und ihm helfen?"

Und diesmal merkte ich,
dass Jesu Gleichnis von dieser Frage geradezu Abstand nimmt.
Nicht, "Wem soll ich helfen?"
ist die Frage,!
sondern "Wer hilft dieser oder jenem, der in Not ist?"
Also: "Wer wird sein oder ihr  Nächster?"

Eine Überschrift über diese Predigt könnte darum so lauten:
Über den Unterschied von
"Wer ist mein Nächster, wem soll ich helfen?"
zu "Wer ist sein Nächster, wer hilft ihm?"

Aber dazu später mehr.

 EINLEITUNG

 Text

Wir nähern uns zuerst einmal der Geschichte,
dem Text zum heutigen Sonntag.
Ich lese aus Lk.10,25-37
[Unterbrechungen jeweils bei den Fragen]

In drei Kreisen möchte ich
diesem Evangeliumstext nachgehen.

1. Jesus sagt: Sieh selbst!
2. Vom andern her denken
3. Auf das Tun kommt es an

 I. Jesus sagt: Sieh selbst!

Zum ersten also:
Jesus sagt: Sieh selbst!

Zu Anfang unserer Textstelle tritt hier,
liebe Gemeinde.
ein »Gesetzeskundiger« auf.
So kann man das griechische Wort wörtlich übersetzen.
In unserer Sprache würden wir ihn einen »Juristen« nennen,
der Jesus hier herausfordert.

Er redet Jesus als »Lehrer« an und tatsächlich entspinnt sich ein Dialog
wie zwischen einem Lehrer
und einem Jura-Studenten.

Der Frager wartet nach der Frage auf eine Antwort,
aber Jesus als guter Lehrer verweist
den Frager zuerst auf seine eigenen Möglichkeiten:
"Sieh selber nach! Lies!
Was sagen deine Bücher, was sagt denn das Gesetz?"

Als dann die Antwort schulmäßig stimmt,
geht es weiter mit der Erörterung eines beispielhaften Falles,
den der Lehrer seinem Frager vorlegt.

Ich lerne in meiner Ausbildung ja gerade auch,
wie man als Lehrer gut unterrichtet.
Die Methode Jesu, die er hier anwendet,
gilt da als ganz aktuell:
Man lässt den Schüler möglichst selbst auf die Lösung kommen.
Man verwickelt den Schüler selbst in das Problem.

Ich denke,
dass die Antwort, die Jesus hier dem Frager gibt,
auch auf viele meiner Fragen an Jesus kommen könnte:

Ich frage Jesus: Was willst du in dieser oder jener Situation?
Wie kann ich so leben, wie du es möchtest?
Und dann sagt Jesus erst einmal:
"Sieh nach! Lies! Was steht denn da?"
Und ehrlicherweise muss ich dann eingestehen,
dass ich wie der Gesetzeskundige hier
die Antwort auf viele meiner Fragen
selbst finden kann
und sie nur oft nicht finden will.

Auch am Schluß nach dem Gleichnis
macht es Jesus wieder so
und lässt den Gesetzeskundigen die Antwort
selbst finden.

 II. Vom andern her denken

Wenn man genau hinschaut,
dann war Jesus aber daran dennoch nicht ganz unbeteiligt:
Außer dem, dass er ein großartiges Beispiel erzählte,
veränderte er die Fragestellung sanft,
aber treffend:

Es ist ein Unterschied,
ob man - wie der Gesetzeskundige - fragt:
"Wer ist mein Nächster?"
Oder ob man wie Jesus fragt:
"Wer ist sein Nächster?"

Damit bin ich beim zweiten Teil,
den ich unter der Überschrift
Vom andern her denken
entfalten möchte.

a) Von mir absehen

Mir fällt auf,!
dass ich, wenn ich an einer Not vorbeigehe,
meistens nur an mich denke:
"Ich habe keine Zeit."
"Ich komme in Gefahr, wenn ich mich darauf einlasse,
mit einem so finsteren Gesellen zu reden."
"Ich kann nicht Wunden verbinden,
habe das Helfen nicht gelernt."

Genau so könnten auch die beiden gedacht haben,
die in Jesu Gleichnis an dem vorübergehen,
der von Räubern überfallen worden ist.

Der Priester beispielsweise:
"Ich habe Dienst, ich muss
die 27 Kilometer von Jerusalem nach Jericho
unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit schaffen!
Außerdem darf ich mich nicht verunreinigen
dadurch, dass ich einen Verletzten berühre,
denn ich muss ja Gottesdienst machen!"

Oder der zweite, der Levit, also der Tempeldiener:
"Die Gegend hier ist so gefährlich.
Der Weg läuft durch die felsige Wüste.
Es ist bekannt, dass es hier Wegelagerer gibt.
Wenn ich mich aufhalte, bin ich bloß auch noch gefährtdet."

In all diesen Sätzen heißt es immer nur: Ich, ich, ich.
Und daraus wird ganz folgerichtig: "Ich nicht.
Ich helfe nicht."
Der andere, der da liegt, ist bei diesen Überlegungen
gar nicht genannt, der ist nur eine Störung,
ein Etwas, ein stummer Schrei.

Ich merke,
dass ich solche Argumentationsketten,
bei denen sich alles nur um mich dreht,
durchbrechen muss.

Der Samariter wird ganz anders beschrieben,
er denkt ganz an den andern,
versetzt sich in seine Lage und erspürt,
was er nötig hat.
Jesus sagt: Er hat Mitleid, denkt sich in sein Leiden hinein.

Deshalb versorgt er ihn aufs Beste,
deshalb räumt er für den Verletzten seinen Platz auf dem Tier,
deshalb bringt er ihn in eine Herberge und pflegt ihn.
Er tut genau das, was der andere braucht.
Er denkt nicht daran, was er selbst braucht,
sondern daran, was er für den andern tun kann.
Seine Fürsorge geht so weit,
dass er auch noch über den Tag hinaus denkt,
sich ausmalt, wie es dem andern weiter gehen wird,
der ja nicht am nächsten Tag seine Habe wiederbekommt.
Deshalb gibt er ihm einen Vorschuss bei dem Wirt
und sorgt auch dafür, dass er ganz genesen kann.

Jesus will uns mit dem barmherzigen Samariter
ein Modell dafür zeigen,
dass wir in der Konfrontation mit der Not
einmal die Ich-Argumente weglassen
und nach den Bedürfnissen des Andern fragen.

Mir hilft da beim Umdenken immer wieder
eine Brücke, die einen ersten Schritt
weg von der Ich-Zentriertheit darstellt.
Es ist die Frage nach Jesus:
Wenn er neben mir stünde, was würde er mir sagen?
Was würde er tun?
Jesus kann mir helfen,
von meinem in mir selbst gefangen Sein wegzukommen.

b) Wer ist sein Nächster?

All das könnte nun so klingen,
als ob wir überall helfen müssten,
uns völlig in die Not der Welt hinein verlieren müssten..

Die Frage Jesu: "Wer wird sein Nächster?"
aber befreit überraschenderweise
gerade auch vor dieser Übertreibung.
Wenn ich von mir absehe
und nach dem Nächsten des Andern frage,
dann gibt es da nämlich oft ganz vernünftige Antworten
auf diese Frage.

Ich erinnere mich da an ein Erlebnis letztes Jahr:
Da klingelte es an der Wohnungstür
und zwei junge Leute hielten mir eine Liste
mit Zeitschriften hin und warben
händeringend um ein Abbonnement.
Nur mit diesem Geld könnten sie
aus dem Teufelskreis der Not ausbrechen,
sagten sie.

Ich war bereit, ihnen ihre Geschichte zu glauben
und ihnen zu helfen,
wenn ich die Sache prüfen könnte.
Also unterschrieb ich mit der Ankündigung,
nur dann nicht zu Widerrufen,
wenn meine Nachforschungen ergeben,
dass es wirklich sinnvoll ist.

Ich informierte mich also bei den zuständigen Ämtern.
Heraus kam, dass die Leute an den Türen
tatsächlich arme Schlucker sind.
Nur stimmt es nicht, dass alleine Zeitungsabos
sie aus dem Teufelskreis der Not bringen könnten.
Im Gegenteil:
Bei diesem Geschäft stehen sie unter größtem Druck.
Tatsächlich gäbe es in unserem Sozialsystem
Stellen, wo sie echte Hilfe bekommen könnten.

Man hat ja keinen Schaden,
wenn man eine Zeitschrift abbonniert.
Aber, so habe ich gelernt, den Leuten an der Tür hilft man damit nicht.
Also habe ich meine Unterschrift widerrufen.

Darf ich das, -  nicht helfen,
wenn da arme Leute vor mir stehen?
Frage ich: "Wer ist ihr Nächster?",
dann lautet die Antwort für die Drücker an der Haustür:
Ich brauche ihnen nicht zum Nächsten zu werden,
es gibt Hilfe für solche Menschen,
die sie, wenn ihre Geschichte stimmt,
nur nicht in Anspruch nehmen wollen.
Ich hatte ihnen auch angeboten, mich zu erkundigen.
Mit Zeitungsabos helfe ich ihnen nicht,
es muss andere Nächste geben, die ihnen wirklich helfen können.

Auch in andern Fällen
ergeben sich andere Nächste:
Selbstverständlich geht die Frage
"Wer wird sein oder ihr Nächster?"
zunächst an die offensichtlich Nächsten:
Die Verwandten, die Nachbarn
oder die Sozialämter.
Eltern sollen für ihre kleinen Kinder sorgen
und Kinder für ihre altgewordenen Eltern.
Unser Nächstendienst kann sich
in Fällen, in denen wir nicht als erste betroffen sind,
darin ausdrücken, dass wir Hilfe vermitteln.

Freilich werden wir immer dann zu Nächsten,
wenn die Allernächsten, die Zuständigen versagen
oder keine solchen da sind.
Dann sollen wir bereit sein,
die Nächsten zu werden,
Hilfe zu leisten.

Samariter in unser Gesellschaft zeichnen sich dadurch aus,
dass sie von sich absehen und vom andern her denken können:
Gibt es für ihn Hilfssysteme, Sozialleistungen?
Welche Hilfe braucht er?
Wer ist Ansprechpartner für seine Not,
also sein Nächster?
Wie kann ich ihm auf dem Weg dorthin helfen?
Wie kann ich seine akute Not lindern?
Kommt es für ihn darauf an,
dass ich weiter für ihn sorge?

In Jesu Beispiel war
für solche langen Überlegungen natürlich kein Raum.
Hier war Soforthilfe gefordert,
spontan und ohne große Absicherung.
Auch dazu sollten wir uns die Bereitschaft erhalten,
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Wir können wie die großen Hilfswerke einen privaten
Fonds für materielle Hilfe
oder eine privates Übrig an Zeit einplanen,
damit wir frei zur Hilfe sind,
wenn uns eine Bitte aus der Not erreicht.

Ich wünsche mir,
dass mir Gott meine Augen so offen hält,
dass ich die Situation erkenne,
wo auf die Frage "Wer wird sein Nächster"
die Antwort »Ich« lauten muss.
Und dass ich dann bereit bin,
mit dem Helfen ernst zu machen.

III. Auf das Tun kommt es an

Zum dritten,
etwas kürzeren Teil:
Auf das Tun kommt es an.

Das häufigste Wort in dem Dialog
um das Gleichnis vom barmherzigen Samariter herum
ist das Wort »tun«.

Wenn Außenstehende Christen beurteilen,
dann bringen sie meist genau dieses Kriterium:
Die Christen sollen tun, was sie sagen!

So ist es mir auch letzte Woche in Stuttgart gegangen.
Wir haben uns da mit Leuten von der Straße unterhalten,
und eine Frau gab uns jungen angehenden Pfarrern
als persönlichen Tip auf den Weg,
dass wir dafür sorgen sollten,
dass die Christen auch das täten, was in der Bibel stünde,
was sie glaubten.

Das Tun -
schon der Gesetzeskundige verwendet es in seiner Frage,
aber dann unterstreicht es Jesus dick:
Auf die Antwort
"Du sollst den Herrn, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
von allen Kräften und von ganzem Gemüt,
und deinen Nächsten wie dich selbst."
sagt Jesus kurz und bündig:
"Richtig geantwortet. Tu das!"

Nocheinmal unterstrichen wird das
von Jesus am Ende:
Nachdem der Gesetzeskundige
als den Nächsten des Verunglückten den beschrieb,
"der die Barmherzigkeit an ihm tat",
da sagt Jesus:!
"So geh nun hin und tu desgleichen!"
Man könnte sagen:
"Tue das Tun der Barmherzigkeit!"

Ein anderer Text zum heutigen Sonntag
ist die biblische Geschichte aus dem Markusevangelium,
in der Jesus gefragt wird,
wer denn seine wahren Verwandten seien.
Und Jesus antwortet,
indem er nicht auf seine leiblichen Geschwister zeigt,
sondern auf die, die ihn hören und ihm nachfolgen:
"Wer Gottes Willen tut,
der ist mein Bruder und meine Schwester
und meine Mutter."

Jesus will, dass wir Ernst machen.
Dass wir anpacken, was wir von ihm wissen.
Wir können das tun,
weil er uns das Leben und die Kraft schenken will.
Deshalb gilt auch die Verheißung,
die Jesus dem Gesetzeskundigen hier gibt:
"Tu, was du richtig gelesen hast,
und du wirst leben!"

Schluss

Drei Dinge also sind mir an diesem Text
mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter aufgefallen
und wichtig geworden für diese Predigt:
1. Jesus sagt: Sieh selbst! Du hast doch die Antwort!
2. Sieh von dir ab und frage, wer dem andern der Nächste werden kann
und ob du es bist.
3. Sieh aufs Tun, denn das hat die Verheißung:
"Tu, wie der barmherzige Samariter tat,
sieh deinen Nächsten und teile dein Leben mit ihm
und du hast das ganze Leben!"

Amen
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